Der SV Lobeda 77 lebt Integration...
Ronny Artmann, 02.07.2013
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"Es gibt Vereine, da agieren die B-Junioren auf Kreisebene mit Ellbogen und am Spielfeldrand hörst du den Vater brüllen hau dem doch mal richtig in die Knochen!", sagt Dieter Heldt, Trainer der SG Kahla/Rothenstein/Uhlstädt. Dem SV Lobeda 77 hatten die Staffelsieger aus Kahla zwar ihre erste Niederlage in dieser Saison zu verdanken, darüberhinaus ist das Verhältnis aber so, wie es sich nach Heldts Geschmack gehört. Vom Landessportbund hat des SV 1910 sich dieses Transparent besorgt und im Vorfeld des Punktspiels Flagge gezeigt: Respekt gehört zum Fußballspiel wie der Rasen und das Leder! Ganz egal, wer gegen wen. Foto: Peter Poser
Jena. Peter Franke hat Post bekommen. Aus der Justizvollzugsanstalt in Gera.
Der von Hand geschriebene Brief enthält herzliche Dankbarkeit und trotz augenscheinlicher Sorgfalt einige orthografische Schnitzer. Agim Kurti heißt der Verfasser, und ihm erzählen seine beiden Kinder oft von Peter Franke und vom Radsport beim SV Jena-Zwätzen, der ihnen eine zweite Familie geworden ist. "Der Umgang tut meinen Kindern gut", schreibt Agim Kurti, der aus Albanien nach Jena kam. "Auch ist dieses heut zutage nicht mehr selbstverständlich."
Peter Franke winkt ab. An fünf Tagen die Woche ist der Abteilungsleiter des SV Zwätzen, Stützpunktverein der Initiative "Integration durch Sport" des Bundesinnenministeriums, für "seinen" Nachwuchs da. Er kennt die familiären Hintergründe, weiß über Probleme in der Schule Bescheid und legt Woche für Woche aus seiner Tasche das nötige drauf, die jungen Athleten zu ihren Rennen zu chauffieren. "Na und?", sagt Franke. "Andere sammeln Münzen. Oder Ölgemälde. Das ist auch nicht billig."
Emine und Valdrin Kurti fahren seit vier Jahren beim SV Zwätzen. Emine soll im nächsten Jahr vom Jenaer Schott- ans Erfurter Sportgymnasium wechseln. Die 13-Jährige ist ehrgeizig, wissbegierig und eine gute Schülerin. "Der Ausdauertyp", sagt Franke. Ganz anders als der um ein Jahr jüngere Bruder. Ein kleiner Hitzkopf, ihm liegt der Sprint, die Schule weniger. Gibt es an der Kooperativen Gesamtschule Schwierigkeiten mit Valdrin, weiß der studierte Sportlehrer Franke Bescheid, noch ehe der Junge zum Training erscheint. Dann sprechen sie noch mal nach der Ausfahrt. Zu sehen, wie die Kinder und Jugendlichen hier sich entwickeln, dafür liebt Franke seinen Posten beim Verein.
Der Zwätzener Radsport- ist aktuell einer von 32 Stützpunktvereinen in Thüringen, in Jena sind das außerdem die Tischtennis-Abteilung des SV Schott und der HBV Jena 90, der SV Lobeda 77 befindet sich nach letzter Aktualisierung 2011 derzeit im Wiederaufnahmeverfahren. Die vier eint, dass sie in Lobeda vor Ort sind, da, wo in Jena die meisten Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund daheim sind. 9214 Migranten leben derzeit in der Saalestadt, ein Drittel allein in Lobeda, davon 600 unter 18-Jährige. Die Mehrzahl der Kinder haben wie Emine und Valdrin die familiären Wurzeln im Ausland, meist in Osteuropa, sind aber selbst in Deutschland geboren und aufgewachsen.
So wie Daniel, Nick und Jana. Der echt thüringische Einschlag ihrer Sprache, während sie Mama Elena Schmidt nach Süßigkeiten drängeln und forsch die Handtasche durchstöbern, und deren ruhige und russisch gefärbte Ermahnungen bilden einen charmanten Kontrast. Die 32-Jährige ist ihrem Ehemann, einem Russlanddeutschen, aus Westsibirien her gefolgt. Dienstags, donnerstags und freitags verbringt sie mit den Jungs beim SV Lobeda 77 beim Fußballtraining. Die zarte Jana interessiert sich nicht für Ballsport, "ich hätte auch Angst um ihre dünnen Beine", schmunzelt Elena Schmidt.
Der Verein in der Alfred-Diener-Straße setzt in Sachen Integration viele Akzente, veranstaltet Turniere oder darüberhinaus Familienfeste. Immerhin haben 30 Prozent des Nachwuchses einen Migrationshintergrund. Das aber, sagt Elena Schmidt, war nicht ausschlaggebend bei der Vereinswahl. "Mehr die Nähe zum Wohnort." Die Schmidts fühlen sich wohl in Lobeda. Allerdings: Den Anteil des Sports am gelingenden Miteinander könne man kaum hoch genug einschätzen: "Hier widmen die Kinder ihre Zeit sich selbst, ihrer Gesundheit, ihren Freunden." Für ihre Kinder, sagt die angehende Steuerfachangestellte, hat das Wort Integration keine Bedeutung, auch nicht, dass in der Kabine nie nur eine Sprache gesprochen wird. Auf dem Spielfeld versteht man sich. Und an dessen Rand, während sie gemeinsam warten, die Mütter. Einige von ihnen haben eine eigene Mannschaft gegründet und nehmen selbst an Turnieren teil.
Mit den Eltern ist das so eine Sache, Peter Franke hat auch andere Erfahrungen gesammelt. "Die Schattenseiten", wie er das nennt. Schwierigkeiten habe er öfter mit Erziehungsberechtigten, als mit deren Kindern. Was die jungen Sportler, unabhängig davon, wie gut sie in der Schule oder sonst wo im Leben zurecht kämen, vom Radsport lernen der 51-Jährige zählt auf: Ehrgeiz, Pünktlichkeit, Ausdauer, Unterordnung, Disziplin, Kameradschaft... Eltern, die bis in die Puppen feiern, wenn der Nachwuchs in aller Frühe raus und zum Wettkampf muss, fügten sich da nicht unbedingt hilfreich in die Bemühungen.
Manche Kinder hole er zum Rennen schon von vornherein zu Hause ab, sagt Franke. Bei manchen wisse man eben vorher, dass es sonst nicht funktioniert. Und immer mal wieder stehe er dann an einem Samstag oder Sonntag früh vor geschlossen bleibenden Türen, die Klingel aus, und aus auch das Mobiltelefon. "Was soll ich dann noch machen?"
Seit 2006 gilt der Verein als anerkannter Stützpunktverein der Bundesinitiative "Integration durch Sport", einem Programm des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), welches auf Landesebene eigenverantwortlich von Landes- und Regionalkoordinatoren umgesetzt wird. Migrantische Mitbürger für Sportvereine zu gewinnen, aber auch Mädchen und Frauen, Senioren oder sozial Benachteiligte, ist das Kernanliegen der Initiative, welches mit finanzieller Förderung, Qualifikationsangeboten, Beratung oder Vernetzung angestrebt wird. Die 900 Euro etwa, welche die Radsportabteilung des SV Zwätzen jährlich von der Initiative erhält, helfen bei der Anschaffung von Sportgeräten. Es ist ein Anfang. Nicht mehr und nicht weniger.
Die talentierte Emine zum Beispiel hat über Ostern an einer Ferienfreizeit des Thüringer Radsport-Verbandes teilgenommen. Die 390 Euro hätte sich die derzeit arbeitslose und allein für ihre Kinder sorgende Mutter nicht leisten können. Peter Franke aktiviert das Projekt "Wohnschirm" der Jenawohnen GmbH. Nach Prüfung der Bedürftigkeit unterstützt dieses seine Mieter zum Beispiel in der Anschaffung dringend benötigter Haushaltsgeräte. 320 Euro Zuschuss bewilligt das Wohnungsunternehmen den Kurtis, 50 legt der Verein drauf, 20 die Mutter. "Weil nichts wert ist, was nichts kostet", sagt Peter Franke.
In seiner Rad-Arbeitsgemeinschaft, die der SV Zwätzen an der Saaletalschule unterhält, erproben in diesem Jahr zwölf Kinder ihr Geschick auf dem Fahrrad. Zehn davon haben einen Migrationshintergrund. Wer sich für den harten Sport eignet, und das sind nach Frankes Erfahrungen nicht mehr als zwei von zwölf, wechselt anschließend in die Trainingsgruppe.
Es gibt zu viele Alternativen in Lobeda, als dass man sich den durchaus hohen Anforderungen des Radsports unbedingt unterwerfen müsste, weiß Franke, und bedauert die manchmal bequemere Entscheidung abwandernder Kinder für andere Angebote durchaus. Andererseits weiß er, "dass wir hier draußen zum Beispiel weniger Kriminalität haben als im Stadtzentrum, weil hier so viele an einem Strang ziehen."
Elena Schmidt sieht das genauso. Der neunjährige Daniel, ihr Ältester, hat einen Kumpel in der Schule, der ihn manchmal zu Hause besucht, den sie aber auch zu oft für ihren Geschmack auf der Straße "herumstromernd" antreffen. "Warum kommst du nicht einfach auch mit zum Fußballtraining", hat sie ihn schon oft gefragt. "Angeblich erlaubt es seine Mama nicht", sagt Elena Schmidt, schüttelt den Kopf. Sie befreit ihre Handtasche sacht von den gierig darin wühlenden Kinderhänden und verteilt an jedes ein Kaugummi. "Daniel will mal Rennfahrer werden", sagt sie. "Oder Tormann oder Miro Klose", sagt Daniel.
"Man kennt sich nicht und trennt sich als Freunde"
Jena. Dass Sport weit mehr ist als sinnvolle Freizeitbeschäftigung, davon ist Hartmut Beyer, Gründungsvorstand der Kinder- und Jugendfußballstiftung Jena zutiefst überzeugt. Das ist auch der Grundgedanke des Internationalen Jugendcamps für Integration und gegen Ausgrenzung, zu der die Stiftung in Zusammenarbeit mit dem hiesigen Internationalen Bund (IB) in dieser Woche eingeladen hat.
Gestern wurde das Camp eröffnet, für das aus Jenas Partnerstädten Mannschaften des FC Jeunesse dAubervilliers, des Sportvereins Lugoj sowie der SpVgg Erlangen 1904 angereist sind. Natürlich geht es um Fußball, aber, sagt Holger Bohnsack vom IB: "Das Camp hat auch einen politischen Hintergrund." Die Jugendlichen sind hier, um sich kennenzulernen, Hemmschwellen abzubauen. Auf dem fünftägigen Programm stehen entsprechend kommunikative Übungen wie Rollenspiele, Simulationen oder Wahrnehmungsübungen, welche das Ziel haben, im interkulturellen Sinne zu sensibilisieren.
Dass Fußball sich dafür besser eignet als vieles andere, liegt für Holger Bohnsack daran, dass in einer Mannschaft alle, wollen sie ein Ziel erreichen, kooperieren müssen. "So ist auch das Training angelegt: Wir mischen die Nationalitäten, so dass man davon ausgehen kann, die Spieler kennen sich vorher nicht und gehen nachher als Freunde auseinander."
Am Ende der Woche wird es ein Turnier geben mit Jenaer Mannschaften vom SV Schott Jena, FC Carl Zeiss, Jena-Zwätzen, FC Thüringen und Gastgeber Lobeda 77.